Sekundärschädigung Drucken

Innerhalb der ersten Woche sterben fast alle Neurone ab, deren Axone bei einer Schädigung des Rückenmarks zerrissen sind. Zunächst schwellen Zellkörper und Axonstumpf an, und schließlich setzt eine Selbstverdauung ein, bei der sich die Zelle in viele kleine, membranumhüllte Bestandteile auflöst. Aber auch die Zellen ober- und unterhalb der verletzten Neurone werden betroffen.

So schwellen in Folge der Wallerschen Degeneration die unteren Neurone an (anterograde transneurale Degeneration), sobald sie den synaptischen Kontakt zum oberen Neuron verlieren. Auch das der sterbenden Zelle vorgelagerte Neuron verliert seinen synaptischen Kontakt und schwillt an (retrograde transneurale Degeneration). Nach einiger Zeit schütten alle betroffenen Zellen Botenstoffe aus, die Immunzellen wie Microglia, Monozyten und Lymphozyten aus dem Blut anlockt. Währenddessen sterben sie ab und werden von den Microglia und Monozyten gefressen.



Abb. 1: Zellen degenerieren nach einer Weile, wenn sie in unmittelbarem Kontakt zu absterbenden Nervenzellen stehen. Man unterscheidet dabei die anterograde von der retrograden Zelldegeneration. Beide kommen nach einer Schädigung des Rückenmarks vor (BENNINGHOFF, 1994).

Nach ungefähr 5-7 Stunden (manche Autoren geben auch mehrere Tage an) sind auch die Microglia durch die Botenstoffe der ersten sterbenden Zellen aktiviert, vermehren sich und folgen der Konzentration dieser Substanzen zum Ort des Sterbens. An Orten mit vielen sterbenden Zellen versammeln sich haufenweise Microglia aus dem umliegenden Gewebe sowie Monozyten aus dem Blut und beginnen damit, die Zellfragmente aufzufressen. Beschädigte Zellen werden durch bestimmte Substanzen von ihnen zum Selbstmord angeregt und ebenfalls gefressen.

Je mehr sterbende Zellen in einer Region sind, desto mehr wird von diesen Selbstmord-Substanzen ausgeschüttet. Ab einer bestimmten Menge von Botenstoffen beginnen die Microglia allerdings, auf alle lebenden Zellen in ihrer Nähe loszugehen, ob diese nun gesund oder beschädigt sind. Sie verfallen geradezu in einen Fressrausch und führen damit zu weiteren, noch massiveren Schäden am Rückenmark.

Kurze Zeit nach Aktivierung der Microglia werden auch die Astrozyten und Oligodendrozyten von den vielen Botenstoffen aktiviert und vermehren sich, bis sie eine fest verzahnte Barriere aus Zellleibern bilden, die Glianarbe. Diese Vermehrung der aktivierten Astrozyten ist ein normaler Prozess des zentralen Nervensystems und nicht mit genetisch deformierten Krebszellen zu verwechseln. Sobald die Astrozyten um sich herum Zellkontakte verspüren, hören sie auf sich zu teilen und deaktivieren sich wieder. Vermutlich dient diese gezielte Vermehrung der statischen Stabilisierung eines Hohlraums, der nach dem Aufräumdienst der Fresszellen sonst lediglich mit Flüssigkeit gefüllt wäre und in sich zusammenbrechen könnte.

Allerdings beherbergt die so entstandene Glianarbe noch eine weitere Eigenschaft, gegen die zur Zeit die Forschung zu Felde zieht - sie verhindert z. B. das Wiederauswachsen der ursprünglichen auf- und absteigenden Bahnen vom Gehirn zu den Gliedmaßen. Damit ist die Glianarbe unter anderem auch mitverantwortlich dafür, dass Rückenmarksverletzungen zur chronischen Querschittlähmung führen.

Die Ausbildung und Wirkungsweise der Glianarbe hängt wohl auch unmittelbar mit dem Absterben der Neurone, bzw. deren Axone aus diesem Bereich zusammen. So zeigten neuere Studien verschiedener Gruppen, dass man die wachstumshemmende Wirkung der Glianarbe auch damit stören kann, indem man die geschädigten Neurone vor ihrem Absterben schützt. Wie dieser Mechanismus funktioniert, ist jedoch noch nicht verstanden und Gegenstand der aktuellen Neuroprotektionsforschung.


Abb. 2: Nach einer Schädigung kommt es zur vermehrten Teilung von Astrozyten, die den entstandenen Hohlraum mit einer dichten GLIANARBE auszufüllen beginnen (Ramon-Cueto et al., 1998).

Um sich das Ausmaß der sekundären Schädigung vor Augen zu führen: Es wird angenommen, dass ein Drittel der zerstörten Nervenzellen auf das Konto der primären und zwei Drittel auf das der sekundären Schädigung gehen, oder um es anders auszudrücken - die sekundäre Schädigung ist mehr als doppelt so umfangreich wie die eigentliche Verletzung.

Autorin: Petra Ahmann


Verwendete Literatur:
Ramon-Cueto et al.; 1998:
Journal of Neuroscience 1998, May 15; 18(10): S. 3803-15

Drenckhahn, D.; Zenker, W. (Hrsg.); 1994:
"Benninghoff Anatomie Band 2", 15. Auflage, Urban & Schwarzenberg, München

Zuletzt aktualisiert am Montag, den 13. August 2007 um 18:31 Uhr